Erst eins … dann zwei … dann drei … dann vier … wie viele Stunden nimmt du dir?
Zugegeben, das ist nicht wirklich ein Blog von mir, denn die folgende Kurzgeschichte ist nicht meiner Feder entsprungen. Anders gesagt: Es sind nicht meine Gedankengänge und dennoch hat die Geschichte auch meine Gedanken erneut in die Gänge gebracht.
Sie erinnert mich daran, wie wir gerade in der Vorweihnachtszeit mit Zeit umgehen.
In den letzten Tagen musste ich immer wieder hören:
„Jetzt noch … vor Weihnachten … das ist zeitlich gerade ziemlich schlecht.“
Zur Geschichte:
PETER SAMMELT ZEIT
„Vati, gehst du mit mir angeln?“
„Keine Zeit, Peter.“
„Mutti, spielst du mit mir?“
„Keine Zeit, Peter.“
„Oma, erzählst du mir eine Geschichte?“
„Keine Zeit, Peter, später.“
„Kein Mensch hat Zeit“, sagt Peter, „und dabei ist doch so viel Zeit da.“
Aber die Erwachsenen haben keine Zeit mehr.
„Ob ich auch keine Zeit mehr habe, wenn ich erwachsen bin?“ Peter überlegt lange.
Er möchte gerne immer Zeit haben. „Ich werde mir Zeit sammeln und sie aufheben, bis ich groß bin. Ich werde überall in den Zeitungen und Büchern die Zeit ausschneiden und sie in diesen Schuhkarton legen. Wenn ich keine Zeit habe, hole ich mir Zeit aus meinem Schuhkarton. Ich möchte immer Zeit haben.“
Von da an schnitt Peter alle Stunden und Minuten aus, die er in der Zeitung las. Stand da zum Beispiel: „Drei Stunden Verspätung hatte der Eilzug aus München“, so schnitt er sich die drei Stunden aus.
Er sammelte auch Minuten. Die zwei Minuten, die gestern der Präsident im Fernsehen sprach, sammelte er genauso wie die fünf Minuten, die jemand zu spät kam.
Seine Schachtel wurde voll von Stunden und Minuten. Oft nahm er seine Schachtel, legte seine gesammelte Zeit vor sich auf den Tisch. Er würde immer Zeit haben. Beruhigt packte er seine gesammelte Zeit wieder ein und versteckte sie im Kleiderschrank.
Manchmal zählte er seine Zeit zusammen. Erst waren es 80 Stunden und drei Minuten. Zwei Wochen später zählte er schon 100 Stunden und 20 Minuten.
Im Herbst hatte er bereits 240 Stunden und acht Minuten.
Peter kam sich reich an Zeit vor. Er überlegte sogar, ob er nicht Zeit verleihen oder gar verkaufen könnte an Leute, die keine Zeit hatten.
Er fand, das sei eine gute Idee. Ein Geschäft, in dem man Zeit kaufen konnte, gab es in der Stadt nicht. Er packte seine Schachtel unter den Arm und ging.
Zuerst sah er eine Frau mit zwei Kindern. Sie zerrte ihre Kinder gerade von einem Spielzeugschaufenster weg. „Kommt doch, ich habe keine Zeit!“, rief sie.
„Hallo, ich habe Zeit für Sie“, sprach Peter die Frau an. „Hier in meiner Schachtel ist viel Zeit. Wie viel brauchen Sie?“
„Quatsch“, sagte die Frau, „Zeit in einer Schachtel. Du glaubst wohl noch an Märchen?“ Sie zog ihre Kinder mit sich fort.
Peter ging enttäuscht weiter. Er sah ein Liebespaar an einer Haustür. „Tut mir leid“, sagte der junge Mann gerade, „weine nicht, ich habe doch keine Zeit mehr.“
„Entschuldigung“, mischte sich Peter ein, „ich könnte Ihnen Zeit leihen. Hier in meiner Schachtel ist sehr viel Zeit. Ich habe sie gesammelt. Wie viel Zeit wollen Sie?“
„Drei Stunden“, sagte das Mädchen und lächelte Peter an.
„Hier, bitte schön.“ Peter legt ihr drei Stunden in die Hand. Glücklich ging er weg.
Das Liebespaar lachte. Sie warfen die drei Stunden weg. Sie flogen leicht davon. Der junge Mann ging eilig über die Straße.
Peter kam an einer Autoreparaturstelle vorbei. Da stand ein tolles rotes Sportauto.
„Was ist dass denn für einer? Darf ich mal zuschauen?“, fragte Peter den Mechaniker.
„Ich habe keine Zeit“, murmelte der, „ich muss die Reparatur fertig machen.“
„Hier, ich schenke Ihnen drei Minuten Zeit. Ich sammle nämlich Zeit“, meinte Peter.
„Junge, hau ab, du spinnst ja. Zeit kann man nicht sammeln. Sammle lieber Autobilder.“
Peter ging weiter und dachte: „Erwachsene sind merkwürdig. Das, was sie am nötigsten brauchen, wollen sie nicht.“
Er ging nach Hause. Sein Vater arbeitete noch in seinem Büro. Er ging zu ihm. „Peter, was ist denn? Ich habe keine Zeit. Das siehst du doch. Hier ist eine Mark. Kauf dir was dafür.“ „Ich will dir Zeit verkaufen oder auch schenken.“ Was willst du?
„Ja, schau, hier habe ich mir 240 Stunden und acht Minuten gesammelt. Ich könnte dir ein wenig Zeit verkaufen. Für die Mark bekommst du zwei Stunden. Damit könnten wir doch angeln gehen. Ich war schon in der Stadt und wollte den Leuten Zeit schenken oder verkaufen. Aber sie wollten sie nicht nehmen.“
Peters Vater schaute lange in die Schuhschachtel. Dann nahm er zwei Stunden heraus, legte sie in seine Briefrasche und sagte: „Komm, Peter, wir gehen angeln. Hebe dir deine gesammelte Zeit gut auf. Vielleicht sammle ich mir auch welche.“
Höfle, Helga (1973) Peter sammelt die Zeit. Herman Schroedel: Hannover, S. 92-93
Wie viel Zeit brauchst du und für was würdest du dir ein, zwei, drei oder vier Stunden aus Peters Schuhkarton nehmen?
Ich wünsche dir und deinen Liebsten einen besinnlichen 1. Advent.
Marco
Autor: Marco Wegner